Unsere Heimat ist die Welt

Liebe Bürgerinnen und Bürger von Brugg und Windisch,

Ich freue mich sehr, heute Abend mit Ihnen zusammen den symbolischen Geburtstag der Schweiz zu feiern. Hier, in diesem eindrücklichen Amphitheater, das viel älter ist als Rütlischwur, Wilhelm Tell und unsere moderne Bundesverfassung zusammen.

Wenn man sich an einem so historischen Ort versammelt, dann sieht man, dann spürt man, dass wir Teil einer jahrtausendealten Geschichte sind. In dieser Geschichte geht es nicht immer nur fröhlich voran. Es gibt Umwege, Rückschläge, Tragödien. Aber auch immer wieder Fortschritt, Hoffnung und neue Perspektiven. Wir kennen das ja alle aus unserem eigenen Leben. Und wir bemühen uns, in den paar Sekunden der Menschheitsgeschichte, die wir mitgestalten dürfen, positive Spuren zu hinterlassen. Im Kleinen und im Grossen.

Im Moment stecken wir ja mitten in einer Umbruchzeit. Als mich der Gemeindeschreiber nach den Eidgenössischen Wahlen vor knapp zwei Jahren an die gemeinsame Bundesfeier von Brugg und Windisch eingeladen hat, war die Welt noch eine andere. Eigentlich wollte ich hier am 1. August aufzeigen, was wir im neuen nationalen Parlament mit einer Rekordzahl an Frauen, Jungen und grünen Kräften alles anpacken, um die progressive Schweiz voranzubringen. Mehr Umweltschutz, mehr Chancen­gleichheit, mehr internationale Zusammenarbeit – also nachhaltiger Wohlstand für uns alle.

Und dann kam die Pandemie und hat alles auf den Kopf gestellt. Je länger sie dauerte, desto tiefer wurden die Spuren, desto grösser die Existenzängste. Ich kenne Schausteller, die fast zwei Jahre lang keine Einnahmen mehr hatten. Wirtefamilien, die aufgegeben mussten, Gesundheitsfachleute, die monatelang am Limit liefen. Ich kenne auch Menschen, die krank wurden und gestorben sind. Aber es gab auch sehr viel Solidarität, Rücksichtnahme und gegenseitige Unterstützung. Gerade von der jungen Generation. Ihre Fürsorge für die älteren Menschen hat mich tief beeindruckt. Die Generationensolidarität in unserem Land ist stark und wird es auch bleiben.

In einer Krise muss man zusammenstehen. Da geht es um das Gemeinwohl, um starke soziale Netz, um einen stabilen Boden für das Leben danach. Wenn ich heute zurückschaue, dann finde ich, wir haben als Gesellschaft in dieser Pandemie einige Fehler, aber auch sehr vieles richtig gemacht. In keinem anderen Land geht es heute wirtschaftlich wieder so gut wie in der Schweiz. Alle können sich unkompliziert und gratis impfen lassen. Und mit den nötigen Vorsichtsmassnahmen sind wieder Sport- und Kulturanlässe möglich – zum Glück auch 1. Augustfeiern, wie hier in Brugg-Windisch.

Aber, wir wissen es alle, es ist noch nicht überstanden – hier noch nicht und vor allem weltweit nicht. Die Pandemie ist immer noch da und bleibt unberechenbar. Den Schaustellern geht es immer noch miserabel. Sie können zwar wieder arbeiten. Aber bei diesem Wetter will sich niemand auf einem Jahrmarkt vergnügen. Das ist nicht einfach Pech, sondern das hat System. Denn neben der Pandemie hat sich in den letzten Wochen wieder eine andere Krise in Vordergrund drängt: Die Klimakrise. Mit Donner und Hagel, mit Überschwemmungen und Zerstörungen hat uns die Natur ihre Kraft ganze demonstriert. Sie hat uns gezeigt, wie klein und verletzlich wir Menschen sind. Und wie abhängig von den Naturkreisläufen. Doch genau diese verändern sich heute in besorgniserregender Geschwindigkeit. Und wir als Menschen sind verantwortlich dafür.

Ich wohne ja in Bern und komme ursprünglich aus Thun. Beide Städte haben mit Brugg und Windisch eine Gemeinsamkeit: Sie liegen alle am gleichen Fluss. Ich war in der Berner Stadtregierung acht Jahre lang verantwortlich für den Hochwasserschutz an der Aare. Wir haben nach der Überschwemmung 2005 enorm viel investiert: Notfallorganisation, Alarmierung, Gefahrenkarte, Verstärkung der Ufermauern, Dammbalken, Beaver-Schläuche, eine Schutzmauer in der Felsenau, ein Greifkran gegen Schwemmholz – Dutzende von Millionen Franken hat das alles gekostet. Und das ist erst der Anfang.

In Bern sind die mobilen Schutzmassnahmen jetzt wieder zurückgebaut worden, so wie in Brugg und Windisch auch. Aber wir werden sie wieder brauchen. Das gleiche Gewitter bei zwei Grad Erwärmung heisst 15 Prozent mehr Wasser. Und das in immer kürzerer Zeit. Das ist Physik. Heinz Wanner, ein Klimaforscher, den ich von der Uni Bern her kenne, hat das Problem kürzlich in einer Zeitung sehr anschaulich zusammengefasst. Er hat aufgezeigt, wie die Klimaerwärmung die Jetstreams beeinflusst, die globale Starkwindsysteme, die ihre Energie aus der Temperaturdifferenz zwischen der warmen Tropen- und der kalten Polarluft beziehen.

Weil sich die Polarluft erwärmt, verändern sich der Motor, der die Hoch- und Tiefdruckgebiete steuert. Dies bewirkt zum Beispiel, dass wir in Europa über längere Zeit entweder kühlfeuchtes Wetter mit Starkniederschlägen oder dramatische Hitzewellen mit Temperaturen bis gegen 45 Grad Celsius oder sogar noch mehr haben wird. Dagegen gibt es keine Impfung. Auch Masken helfen nicht weiter. Nur wir selber können noch etwas ändern – indem wir die Nutzung von fossiler Energie so rasch wie möglich drosseln. Je weniger Treibhausgas jetzt noch in die Atmosphäre kommt, desto weniger Erwärmung gibt es und desto weniger Wetterextreme und ihre Folgen. So einfach ist das. Und so unglaublich wichtig.

Bei der Entstehung der Schweiz als Nation, also 1848, ging es darum, wie wir hier in unserem Land und wie wir mit unseren Nachbarn zusammenleben wollen. Föderalismus, Minderheitenschutz, Souveränität, internationale Verträge – all das haben wir nach dem Motto «l’état c’est nous» gemeinsam ausgehandelt und gemeinsam entschieden. Seit 50 Jahren können auch die Frauen endlich mitreden. Erst seit dann ist die Schweiz eine richtige Demokratie. Aber die Geschichte ist kein Ruhekissen, auf dem wir am Nationalfeiertag sitzen.Geschichte ist ein Auftrag, die Gegenwart und die Zukunft zu gestalten. Viel zu lange haben wir uns darauf verlassen, dass alles so bleibt wie es ist. Nun müssen wir uns den neuen Realitäten stellen.

Es geht heute um eine völlig neue Dimension. Es geht um die Frage: Sind wir in der Lage, Verantwortung nicht nur für unsere Familie, unsere Gemeinde, unser Land zu übernehmen, sondern auch für den blauen Planeten, auf dem wir leben? Ich hoffe es sehr. Denn wir haben keine Wahl.Die Schweiz ist heute mit dem Wohlergehen der Menschen in anderen Ländern verwoben wie nie zu vor. Das haben wir in der Corona-Krise gesehen, als die globalen Versorgungsketten plötzlich stockten. Das sehen wir auch bei der Klima-Krise. Jetstreams und Hitzewellen kümmern sich nicht um nationale Grenzen. Wenn in Afrika oder Asien die Dürren zunehmen, dann ist auch unser Wohlstand hier in der Schweiz gefährdet. Wir müssen Heimat deshalb neu denken: Heimat ist da wo wir leben. Heimat ist aber auch dort, wo alle anderen leben. Unsere Heimat ist die Welt, der einzige Planet, auf dem nach heutigem Wissen menschliches Leben möglich ist.

Tragen wir Sorge zu ihm. Schützen wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Damit die Einwohnerinnen und Einwohner von Brugg und Windisch auch in 1000 Jahren hier in diesem Amphitheater noch feiern können.

Die Geschichte zeigt: Hinter jeder guten Tat, hinter jeder Errungenschaft, auf die wir heute stolz sind, stecken engagierte, weitsichtige, mutige Menschen. Auf genau auf diese Menschen kommt es auch heute an – also auf Sie alle hier. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie an das symbolische Geburtstagsfest für die Schweiz gekommen sind und Verantwortung übernehmen. Nun freue mich auf ein Glas Wein und gute Gespräche!

(Rede zum 1. August 2021 in Brugg-Windisch)