«Die Klimakleber erreichen ihre Ziele offensichtlich nicht»
Der Klimawandel beschäftigt Regula Rytz auch in ihrer neuen Rolle als Präsidentin des Hilfswerks Helvetas. Die ehemalige Grünen-Chefin hat eine Botschaft für die Klimakleber.
Liebe Bürgerinnen und Bürger von Unterlangenegg, liebe Gäste
Es ist ja ein wenig ein Risiko, an einen so traditionellen und symbolischen Anlass einen Gast einzuladen, und erst recht einen Gast aus einer Partei, die bei den letzten nationalen Wahlen hier in Unterlangenegg 6 Prozent der Stimmen gemacht hat. Nicht gerade viel, könnte man meinen, aber immerhin Platz 3 in der Parteienhitparade hier. Aber keine Angst. Ich bin nicht hier, um zu politisieren und ich komme auch gar nicht von allzu weit her. Ich bin nämlich 8 km Luftlinie von hier, in Hünibach, unten am Thunersee, aufgewachsen, also mit den gleichen Bergen vor der Nase wie Ihr. Nur habe ich sie aus einer etwas anderen Perspektive gesehen. Von weiter unten, mit weniger Gipfelfeld im Blick.
Und genau darum geht es in einer Demokratie. Um unterschiedliche Perspektiven. Demokratie ist die Organisation von Vielfalt, hat die grosse Philosophin Hannah Arendt einmal gesagt. Wenn alle gleich sind, das Gleiche denken und die gleichen Ziele haben, dann braucht es keine Regierungen, keine Gemeindeversammlungen und Parlamente. Dann muss man nicht nach Lösungen suchen und nach Kompromissen ringen. Dann muss man einander nicht zuhören und verstehen lernen. Dann gibt es eine einzige, ewige Wahrheit – und basta.
So grau und eintönig ist das menschliche Zusammenleben nicht, zum Glück. Und kaum jemand hat das so gut verstanden wie der berühmteste Unterlangenegger, der frühere Bernische Regierungspräsident, Bundesrat und General Ulrich Ochsenbein. Er hat vor 175 Jahren Weltgeschichte geschrieben, als Vater der ersten demokratischen Verfassung auf dem europäischen Kontinent.
Da drüben, im früheren Wirtshaus „Zum Bären“, ist er 1811 auf die Welt gekommen, als Sohn eines Land- und Gastwirtes aus Fahrni und einer Müllerstochter aus Heimberg. Seine Eltern waren nicht arm, aber Lesen und Schreiben haben sie sich selbst beibringen müssen. Der kleine Ueli hatte es schon besser. Ab 6 Jahren konnte er die Schule in Schwarzenegg besuchen. Niemand hätte damals gedacht, dass einer wie er einmal in Biel in den Gymer gehen würde, dass er Jurist und Staatsmann werden würde, dass er im Bürgerkrieg zwischen den katholischen und den reformierten Kantonen 1847 die Bernische Division anführen würde. Und erst recht niemand hätte gedacht, dass er nach allem, was er für die moderne Schweiz erreicht hatte, so abgrundtief fallen könnte. Aber alles war möglich, in dieser Umbruch-Zeit. Wenn man mich nach einem Sujet für einer Netflixserie fragen würde, dann wäre es klar: Ich würde das Leben von Ueli Ochsenbein verfilmen. Es ist spannender als jeder Krimi.
Auch wir leben heute in bewegten Zeiten. Es gibt sogar Leute, die sagen, wir leben in einer Zeitenwende. Ich glaube, sie haben recht. Unsere Hoffnung auf immerwährenden Wohlstand und immerwährende Sicherheit wird täglich auf die Probe gestellt. Wenn wir am Abend die Tagesschau anklicken, dann sehen wir russische Bomben auf ein Spital in der Ukraine hageln, wir sehen Hitzealarm rund ums Mittelmeer, wir sehen Berichte über die globale Aufrüstung, auch mit Atomwaffen, über Hunger und Armut, über die Erwärmung der Weltmeere, über die Störungen des globalen Wettersystems, über das Wegschmelzen der Gletscher, drüben an der Blüemlisalp, im Himalaya, an den Polen – es wird langsam ungemütlich auf dieser Welt, selbst hier, in der reichen und stabilen Schweiz.
Auch vor 200 Jahren mussten die Menschen viele Krisen verdauen. Ein Vulkanausbruch in der Karibik zum Beispiel hat 1816 eine grosse Hungerkrise ausgelöst. Das Wetter spielte verrückt, und hier in der Region wurden viele Ernten zerstört. Arme Familien haben von Gras und Abfällen leben müssen, heisst es in den Chroniken, und haben bei der Familie Ochsenbein da drüben um Almosen gebettelt.
Auch politisch waren es unruhige Zeiten. Als Ueli Ochsenbein geboren wurde, hat halb Europa zum napoleonischen Empire gehört. Auch die Schweiz war faktisch ein französischer Vasallenstaat. 16‘000 Soldaten musste die Schweiz für den Russlandfeldzug von Napoleon zur Verfügung stellen. Auch Unterlangenegger waren dabei. Man weiss, dass zum Beispiel der Onkel von Ueli Ochsenbein mit der „Grande Armée“ gegen Moskau gezogen ist und auf dem Rückzug an der Beresina elendiglich ums Leben kam.
Nach dem Sturz von Napoleon haben die reaktionären Monarchien wieder Oberwasser bekommen und Europa unter sich aufgeteilt. Die heillos zerstrittene Eidgenossenschaft hatte Glück. Am Wiener Kongress von 1815 wurde sie als neutrale Pufferzone zwischen den deutschen, französischen, italienischen und österreichischen Fürstenhäusern in die Freiheit entlassen. Wäre damals anders entschieden worden, dann hätte es die Schweiz als Nation und damit auch die 1. Augustfeier heute nie gegeben.
Umso erfreulicher ist es, dass Ueli Ochsenbein und seine Verbündeten die Gunst der Stunde nutzten, um die Schweiz als liberale Demokratie zu einigen und neu zu erfinden. Hier wollte man verwirklichen, was in anderen europäischen Ländern seit langem diskutiert, aber immer wieder unterdrückt wurde: Die Idee der Volkssouveränität, der Rechtsstaatlichkeit, und vor allem das Aufheben aller Untertanenverhältnisse und Geburtsprivilegien.
Heute tönt das alles so selbstverständlich. Freiheit, Rechtsgleichheit, Demokratie. Als ob das schon immer zur Schweiz gehört hätte, wie das Sigriswiler Rothorn oder die Schrattenflueh. Dabei ist das eigentlich alles noch gar nicht so alt. Keine 200 Jahre. Und trotzdem können wir uns kaum mehr vorstellen, wie radikal Ueli Ochsenbeins Bruch mit der alten Ordnung gewesen ist. Dagegen sind Fridays for Future ein laues Lüftchen. Sie wollen Öl und Gas durch Sonne, Wind oder Bodenwärme ersetzen – also mit neuen Technologien die Arbeitsplätze und den Wohlstand der Zukunft schaffen. Eigentlich etwas ganz Pragmatisches. Freiheitsenergie.
Euer Ueli Ochsenbein aus Unterlangenegg ist viel weiter gegangen als die heutige Klimabewegung. Er hat mit seinem Kampf für einen demokratischen Bundesstaat fast alles auf den Kopf gestellt, was vorher galt. Der Staat hat nach 1848 zum Beispiel keine konfessionelle Minderheiten mehr verfolgt, so wie zur Zeit der Täuferbewegung hier in Schwarzenegg. Neu hat Glaubensfreiheit gegolten. Aber auch Niederlassungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereinsfreiheit oder Wirtschafts-Freiheit, auch zwischen den Kantonen. Mit der Zeit sind auch noch die ungeliebten Bodenzinse und der Zehnte abgeschafft und durch ein System von Einkommens- und Vermögenssteuern ersetzt worden. Das war gerade für die Landbevölkerung ein grosser Segen. Diese fundamentalen Veränderungen und Brüche haben für die meisten Menschen hier Verbesserungen und Perspektiven gebracht.
Warum ist es so wichtig, sich an diese Zeiten zu erinnern? Für mich sind es zwei Gründe.
Auf der einen Seite können wir stolz sein auf die Geschichte unserer Demokratie, ganz besonders Ihr hier auf der Unterlangenegg. Dort, im alten Bären, hat der Erfinder der modernen Schweiz seine Kindheit verbracht. Er ist einer vom Land gewesen, einer von hier, einer, der nicht nur revoluzzgert hat (das hat er auch auch, und wie!), sondern auch Brücken baute. Dank ihm hat sich die Schweiz für einen föderalistischen statt einen zentralistischen Bundesstaat entschieden. Dank ihm werden auch kleine Kantone und Minderheiten in diesem Land ernst genommen. Dank ihm haben alle, nur nicht die Starken eine Stimme erhalten – zumindest bei den Männern. Bei den Frauen ging es leider etwas länger. Aber das ist eine andere Geschichte, die in diesem Sommer von der Kulturlandbühne in Schwarzenegg ausführlich ergründet wurde (Theaterstück „Die göttliche Ordnung“).
Die Auseinandersetzungen mit unserer Geschichte hat für mich aber noch einen viel grundsätzlicheren Wert. Heute Abend wird ja die erste Chronik von Unterlangenegg veröffentlicht. Ich habe bereits ein Exemplar erhalten und in einem Zug durchgelesen. Die Chronik zeigt, wie hart das Leben früher war. Sie zeigt aber auch, welche Verbesserungen die Menschen gemeinsam zustande brachten. Wie sie in die Schulen investiert haben, in eine bessere Gesundheitsversorgung, in landwirtschaftliche Genossenschaften und eine gute Verkehrserschliessung. Sie zeigt auch, dass hinter jeder positiven Veränderung weitsichtige Menschen stehen, die sich für die Gemeinschaft engagieren und etwas wagen. So wie der Massimo Arnaldi, Sohn italienischer Einwanderer und erfolgreicher Unternehmer aus Thun, der das Ochsenbeinhaus, ein Monument der Schweizer Demokratie, vor dem Verfall gerettet hat. Was für ein schöner Brückenschlag!
Und es ist noch viel mehr möglich. Wenn es Ueli Ochsenbein und seine Kollegen vor 200 Jahren geschafft haben, die Schweiz zum Wohle ihrer Bewohnerinnen und Bewohner neu zu erfinden, dann schaffen wir das auch. Dann schaffen wir es, eine Schweiz zu erfinden, welche ihren Kindern langfristig gesunde Lebensgrundlage und Wohlstand in einer nachhaltigen Wirtschaft weitergibt. Dann schaffen wir es, auf jedes geeignete Dach in Unterlangenegg eine Solaranlage zu installieren und Ölheizungen zu ersetzen. Dann schaffen wir es, unseren riesigen Abfallfussabdruck zu verkleinern. In dem wir zum Beispiel beim Einkaufen nicht das Billigste, sondern das Wirtschaftlichste kaufen, also das, was am längsten Wert hat und keine giftigen Abfälle und teure Altlasten produziert. Wer die Heimat liebt, schützt die Umwelt, sage ich immer wieder.
Wir schaffen es aber auch, die Gräben zwischen Stadt und Land zuzuschütten und aufeinander zuzugehen, mit Neugier und Respekt. Und wir schaffen es, wieder ein besseres Verhältnis zu unseren Nachbarn in Europa zu finden und aktiv zu einer friedlichen und fairen Weltpolitik beizutragen. Denn die aktuellen Krisen zeigen: eine stabile und sichere Schweiz gibt es nur in einer stabilen und sicheren Welt. Alles hängt heute mit allem zusammen.
Die Chronik von Unterlangenegg zeigt eine Gemeinde im Wandel. Und so, wie sie sich in der Vergangenheit gewandelt hat, so wird sie sich auch in Zukunft wandeln. Wir alle können beeinflussen, dass es ein Wandel zum Guten ist. Wenn der Wind der Veränderungen bläst, dann sollte man sich nicht unter dem Tisch verstecken und hoffen, dass der Sturm vorbeizieht. Dann muss man die Ärmel hochkrempeln und gute Lösungen finden. So wie Ueli Ochsenbein vor 175 Jahren. Es gibt ihn übrigens immer noch: Der Ueli Ochsenbein von heute, das sind wir: Die Erfinder und Erfinderinnen einer zukunftsoffenen Schweiz!
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