Umweltpolitik: Die EU macht vorwärts (und die Schweiz hinkt hinterher)

Die Schweiz war einst die Pionierin des Umweltschutzes. Unterdessen gibt die EU den Takt vor. Ihre Entscheidungen haben Gewicht. Denn die EU ist nicht nur der stärkste Wirtschaftsraum der Welt, sondern auch ein bedeutender Industriestandort. Werden hier ökologische Spielregeln durchgesetzt, dann beeinflussen sie die globalen Wertschöpfungsketten. Es lohnt sich deshalb, die Umweltpolitik der EU genauer unter die Lupe zu nehmen. Leider ist auch da nicht alles Gold was glänzt. Aber ähnlich wie in der Arbeitsmarktpolitik sind bemerkenswerte Veränderungen im Gang.

So prüft die EU zurzeit das Verbot einer ganzen Gruppe von Industriechemikalien. Die sogenannten PFAS, per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, sind Umweltgifte, die bis in die entlegensten Gegenden der Welt gemessen werden. Sie können von der Natur nicht abgebaut werden und reichern sich in Böden und Gewässern an. Ihr Einsatzgebiet sind Sportkleider, Antihaft­beschich­tungen oder Pestizide. Bisher waren nur einzelne, besonders gefährliche Verbindungen, untersagt. Für die anderen gelten Grenzwerte, die laufend gesenkt werden müssen. Ein generelles Verbot wäre deshalb ein Paradigmenwechsel, von der Schadensbe­grenzung weg zu einem «Zero Waste»-Modell. Hier ist nur erlaubt, was im Material-Kreislauf weiter genutzt werden kann und die künftigen Generationen vor gefährlichen Altlasten verschont.

Die saubere Schweiz exportiert ihren Dreck

Verbote waren auch in der Schweiz ein bewährtes Instrument der Umweltpolitik. Legendär ist zum Beispiel das Verbot von Phosphat in Textilwaschmitteln 1986. Die stinkenden Algenteppiche auf den Seen lösten damals so grosse Empörung aus, dass auch der erbitterte Widerstand der Industrie den Fortschritt nicht verhindern konnte.

Das Phosphat-Verbot war einer von vielen Pioniertaten, welcher die Schweizer Umweltpolitik prägen. Den Anfang machte das nationale Forstpolizeigesetz von 1876 – eine Weltpremiere. Die wichtigste Regelung war das Gebot der Walderhaltung. Wer Wald im Berggebiet und ab 1902 in der ganzen Schweiz rodete, musste die gleiche Menge wieder aufforsten. Auslöser dieses Eingriffs in den Waldbesitz waren die negativen Folgen der liberalen Deregulierungen im Forstwesen ab 1830. Rodungen, Holzexporte und Preise stiegen rapide an und lösten neben sozialen Verwerfungen auch Überschwemmungen und Hangrutsche aus. Die Behörden mussten handeln, und zwar nach einem Muster, das auch die nachfolgenden Gesetze prägte: Wenn lästige und schädlichen Umwelt-Ein­wirkungen nicht mehr zu übersehen oder zu überriechen waren, konnte sich die Politik gegen wirtschaftliche Einzelinteressen durchsetzen. Oft machten auch Bürger*innen­bewegungen mit Petitionen und Volksinitiativen erfolgreich Druck. Dazu kamen weitsichtige Wissenschafter*innen, die Behörden und Zivilgesellschaft zum Handeln drängten.

Im OECD-Vergleich steht die Schweiz heute punkto Umweltschutz gut da. Dies ist auch den erwähnten Pionierleistungen im Wald- und Gewässerschutz verdanken. Die Hauptursache für das gute Rating der Schweiz (zum Beispiel bei der CO2-Belastung) liegt aber beim Export ihrer Umweltlasten in die globalen Wertschöpfungsketten. Zwei Drittel aller Umweltschäden für die Inlandproduktion und den Inlandkonsum fallen heute im Ausland an. Also dort, wo wir es in der «sauberen» Heimat nicht sehen, hören, riechen und erleiden können. Das schwächt den Druck für umweltpolitische Reformen oder gar neue Pioniertaten der Schweiz.

Die EU setzt auf Kreislaufwirtschaft

Während die Schweiz umweltpolitisch lahmt, hat die EU 2019 eine globale Leader-Rolle über­nommen. Mit einem «Green Deal» soll Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent entwickelt werden. Das Paket umfasst Maßnahmen in den Bereichen  Finanzmarktregulierung, Energie­versorgung, Verkehr, Handel, Industrie sowie Land- und Forstwirtschaft. Viele der vorgeschlagenen Reformen sind heftig umkämpft. So zum Beispiel das von der Automobil-Industrie unterstützte Ziel, ab 2035 nur noch Neuwagen ohne Verbrennungsmotor zuzulassen. Ausgerechnet die deutsche FDP hat diese industriepolitische Weichenstellung jüngst aus ideologischen Gründen blockiert.

Trotz Hürden und Rückschlägen zeichnet sich die europäische Umweltpolitik durch wichtige Innovationen aus:

1) Schadensvermeidung statt Schadensbegrenzung: Mit dem zweiten Aktionsplan zur «Kreislaufwirtschaft» bestätigt die EU-Kommission ihren Kurs, eine ressourcenschonendere Wirtschaftsweise zu fördern. Anstatt wie die Schweiz rekordhohe Abfallmengen zu verbrennen oder zu recyclieren, sollen Abfälle an der Quelle vermieden werden. Dies geschieht zum Beispiel durch verbindliche Reduktionsziele zum Material­verbrauch oder der Ökodesign-Richtlinie. Jüngster Erfolg ist der Beschluss zur Vereinheitlichung von Ladekabel für Elektrogeräte. Erreicht wurde er dank dem hartnäckigen Einsatz der grünen Binnenmarkt-Expertin Anna Cavazzini, die nun das «Recht auf Reparatur» durchsetzen will.

2) Klimapolitik als Industriepolitik: Anders als die offizielle Schweiz verstehen die EU-Behörden den Schutz der Lebensgrundlagen nicht als Belastung, sondern als Chance für die Wirtschaft. Über eine Billion Euro (öffentliche und private Gelder) sollen in den nächsten 10 Jahren in die Dekarbonisierung investiert werden. Ein wichtiger Treiber für Innovation ist dabei die Ver­schärfung des Emissionshandelssystems. Um die Verlagerung von Produktionsstandorten in nicht EU-Länder zu verhindern, schlägt die Europäische Kommission ein CO2-Grenz­ausgleichssystem vor.

3) «Just Transition»: Mit einem zusätzlichen Investitionspaket sollen europäische Regionen unterstützt werden, deren Wirtschaft überdurchschnittlich von fossilen Brennstoffen abhängig ist. Damit auch sie den Übergang zu klimafreundlicheren Wirtschaftszweigen schaffen, werden zwischen 2021 und 2027 150 Milliarden Euro eingesetzt.

Während Kommission und Parlament der EU die Transformation zu einer ressourcenschonenden und klimaneutralen Wirtschaft trotz Widerständen vorantreiben, will der Schweizer Bundesrat von öffentlichen Investitionsanreizen oder Verbrennermotor-Verboten gar nichts wissen. Die Grünen haben deshalb mit der SP zusammen eine Volksinitiative für einen «Green New Deal» à la suisse gestartet. Diese schlägt vor, dass der Bund jedes Jahr zwischen 0,5 und 1 Prozent der Wirt­schafts-L­eistung (das sind 3.5 bis 7 Milliarden Franken) in die ökologische Wende investiert. Die Geschichte zeigt uns: Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Volksinitiative die Umweltpolitik in der Schweiz vorwärtsbringt!

Regula Rytz, Historikerin, ehem. Nationalrätin und Präsidentin der Grünen Schweiz, Mitglied der Gruppe «Europa» des Denknetzes (dieser Beitrag ist in der Zeitung „Das Denknetz“ vom April 2023 erschienen).